12jähriger Junge
Zeitzeuge Heinz Renk berichtet:
Eigentlich hätte der 9. November 1938 ein normaler Tag werden sollen. Wir erwarteten eine Gedenkstunde für den 9. November 1923 in der Schule und hofften dann auf schulfrei am nationalen Feiertag. Es kam aber anders.
Auf meinem kurzen Schulweg von der Warendorfer Straße zur Bultstraße gab es nichts Besonderes. Auf dem Schulhof aber schwirrten die Stimmen der Mitschüler, deren Schulweg durch die Stadt geführt hatte, durcheinander. „Alle Judenhäuser sind kaputt, überall sind die Scheiben eingeschlagen, Möbel liegen auf der Straße.“
Unser Lehrer, ein hundertprozentiger Jude, ließ auf sich warten. Ich weiß nicht mehr, ob er nach einer halben und einer ganzen Stunde auftauchte; jedenfalls kam er mit Hosenträgern über dem Braunhemd, wirrem Haar und nicht adrett, wie sonst. Ob er noch betrunken oder schon verkatert war, konnte man nicht erkennen. Er verkündete in etwa: „Heute Nacht hat sich das deutsche Volk an den Juden gerächt. Geht nach Hause.“
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, aber nicht nach Hause; denn die Erzählungen der Schulfreunde hatten mich neugierig gemacht. Es ging in die Stadt. Bei Fritzlers an der Kirchstraße (heute Eickhoff) hingen die kaputtgeschlagenen Möbel und viele Glasscherben auf dem Bürgersteig. Weiter zur Synagoge. Mir wurde unheimlich zumute. Nie zuvor hatte ich eine Synagoge von innen gesehen, geschweige denn betreten. Ich bin im Türrahmen stehen geblieben und sah nur zerschlagenes Mobiliar, während Kinder mit langen „Fahnen“ über die Trümmer sprangen. Heute weiß ich, dass das die Thorarollen gewesen sein müssen; als Zwölfjähriger hatte man davon aber keine Ahnung.
Nur einen Steinwurf von der Synagoge entfernt das Haus Schreiber an der Ruggestraße, das gleiche Bild wie bei Fritzlers. Dann zur Langen Straße, bei Weinberg (heute Diekemper) waren die Schaufensterscheiben zerschlagen, Dekorationspuppen und Kleiderständer lagen auf der Straße; dazwischen Stoffballen. Die halbe Straße war verbarrikadiert. Das gleiche Bild bei Hoffmann an der oberen Langen Straße. Textilien und Mobiliar lagen auf der Straße und mitten in dem ganzen Chaos ein großes Radio – wohl aus der zerstörten Wohnung im ersten Stock auf die Straße geworfen.
Während ich noch darüber sinnierte, wieso man so etwas Schönes kaputtmachen konnte, öffnete sich die Haustür und Frau Hoffmann kam heraus, ihre beiden Kinder rechts und links umarmt, alle mit einer Wolldecke bedeckt und hastete in den Estinghauser Hof zum Krankenhaus. Sie hatte viel Gutes für das Marienhospital (Link zur Stele) getan und bekam nun ein erstes Asyl bei den Schwestern, denn ihre Wohnung war total verwüstet. Sie sah in diesem Moment wie eine Schutzmantelmadonna aus.
Meine Freunde wollten noch weiter zum Grünen Weg zu Steinbergs. Ich hatte die „Nase voll“ und wollte nach Hause.
Und diese Bilder, das sinnlos zerstörte Radio und die wie ein gehetztes Reh mit ihren Kindern fliehende Frau Hoffmann stehen mir noch heute vor Augen, wenn von der Pogromnacht gesprochen wird.
(Zeitzeugenbericht aus „Spur der Stolpersteine in Oelde“; herausgegeben vom Ökumenischen Kreis „Wir Christen in Oelde“ – Elisabeth und Peter Lewanschkowski)